Früher war alles besser!“ Das ist natürlich genauso ein Schmarrn wie „Die Erde ist eine Scheibe“ oder „Britney Spears singt besser als die legendäre Opernsängerin Maria Callas“. Aber das erste Statement trägt anders als die beiden anderen zumindest ein Fünkchen Wahrheit in sich. Beispiel Skifahren: Die Winter waren in den Fünfzigern und Sechzigern des letzten Jahrhunderts in der Tat einfach besser. Das weiß mittlerweile nicht nur jeder Klimaforscher, sondern auch der gesunde Menschenverstand. Der Schnee rieselte einst in heutzutage schier unglaublichen Mengen von Dezember bis April vom Himmel, lag meterhoch, sodass die Kinder oftmals nicht zur Schule und die Gläubigen nicht zur Kirche kamen. Dafür gab es Schneeburgen, Schneeballschlachten und Schneebars. Wer Ski fahren wollte, der stapfte einst quer über den Kirchplatz zum Dorflift, holte sich für ein paar Mark oder Schilling eine Punktekarte, wedelte ein paarmal durch den Pulver – und war happy. Schlicht und einfach. Skifahren war Mitte des letzten Jahrhunderts aber auch das natürliche Gegenstück zur Sommerfrische: Die ganze Familie freute sich auf die Weihnachts- oder Faschingsferien in Weiß.
Und heutzutage? Nicht nur hoffnungslose Nostalgiker schwelgen in der „guten, alten Zeit“. Je komplizierter das dritte Jahrtausend wird, desto mehr sehnt sich der „Homo Metropolis“ zurück nach dem Unkomplizierten, Überschaubaren, Einfachen. Oder wie es der amerikanische Philosoph Henry-David Thoreau, quasi der Großvater der Zurück-zur-Natur-Bewegung, zu sagen pflegte: simplify, simplify!
Eine Fahrt mit der Zeitmaschine
Lässt sich das Zeitenrad zurückdrehen? Natürlich nicht. Es dreht sich immer in eine Richtung. Und wird ständig schneller. Aber auch in Zeiten von Smart-Home, selbstfahrenden E-Autos und hochmodernen Ski-Resorts findet man sie beim genauen Hinschauen noch, die Nostalgie auf zwei Brettern. Bestes Beispiel: die Region Seefeld. Skifahren hier oben auf Tirols Hochplateau bedeutet: Start am Dorfplatz statt am Großraumparkplatz auf 2.700 Meter Höhe. Old-school-Schlepplift statt Highspeed-Umlaufbahn mit beheizten Sitzen. Gemütlicher Glühweinstand statt SB-Restaurant. Auf dem Sonnenbalkon hoch über Innsbruck können sich Eltern in die gute, alte Zeit zurückbeamen, als sie selbst noch Kinder waren. Und sich zurückerinnern, als der Liftmann im winzigen Lifthäuschen die Punktekarte, die mit einem Gummiband am Ärmel baumelte, abknipste. Als die in stundenlanger Kinderarbeit selbst gebaute Schanze größer wurde als man selbst. Und als die Welt eine weiße, und vor allem unbeschwerte war. Könnte man diesen vergangenen Winterzauber nur noch einmal erleben! Man kann. Und die eigenen Kinder kann man gleich mit in die Zeitmaschine nehmen. Skifahren in Seefeld ist quasi ein Win-win für zwei Generationen. Aber auch wenn die Seefelder mit ihren gleich zwei nostalgischen DorfSkiliften bewusst auf Anti-Superlative setzen, kokettieren sie trotzdem mit einem – wenn auch nicht im Guinness-Buch stehenden – Weltrekord: mit der wahrscheinlich kleinsten Skischaukel der Alpen.
Zwei Lifte und ein inoffizieller Weltrekord
Wie hoch sind 55 Meter? Halb so hoch wie die Doppeltürme der Münchner Frauenkirche. Oder so hoch wie ein ausgewachsener Christbaum. 55 Meter beträgt aber auch der weltrekordverdächtig geringe Höhenunterschied zwischen „Tal-“ und „Bergstation“ des Birkenlifts in Seefeld. Ein Kleinstskigebiet, wie es im Bilderbuch steht – mit zwei Bügelliften, einem überdachten Förderband und einer herrlich weiten und flachen Piste. Hier am Birkenlift auf 1.170 Meter Seehöhe lässt sich vortrefflich Skifahren lernen! Aber der 55-Höhenmeter-Pistenspaß endet noch lange nicht, sondern geht auf der anderen Bergseite weiter. In Sichtweite zur Dorfkirche St. Oswald und der Fußgängerzone wartet nämlich das zweite Kleinstskigebiet auf schneebegeisterte Pistenflöhe und ihre Eltern: der Dorflift am Geigenbühel.
Von wegen, früher war alles besser! Früher musste man auf dem Rückweg vom Birkenlift zum Geigenbühel kräftig schieben, was für Kinder, Eltern und Skilehrer sehr anstrengend war. Seit Dezember 2022 sind Geigenbühel und Birkenlift durch ein Förderband verbunden. Gute, neue Zeit! Die vielleicht kleinste Skischaukel der Welt besteht nun aus drei Schleppliften, sechs Förderbändern, einem Seillift und einem Karussell. Fein für Familien mit Kindern: Für den Anfängerbereich gibt’s eine eigene Liftkarte. So können sich die Kurzen bis auf das Karussell auf beiden Hängen auch ohne Skikurs vergnügen. Was andererseits schade wäre, denn die Skikurse mitten in Seefeld haben Geschichte. Und strotzen nur so von Geschichten.
103 Jahre Skifahren am Geigenbühel
Wir schreiben das Jahr 1921. Wilhelm Völck gründet die „Schischule Seefeld“. Was er hat: immerhin fünf Skilehrer. Was er nicht hat: einen Lift. Dafür aber am Geigenbühel in Schneeballwurfentfernung zum Dorf einen perfekten Hang. Und ein gewaltiges Interesse an dem neuen Wintersport, der in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von Skandinavien nach Tirol und Seefeld herüberschwappte. 103 Jahren später gilt Seefelds Geigenbühel als einer der ältesten Skischulsammelplätze Österreichs. Das reinste Wimmelbild in Weiß und Bunt, wenn sich hier früher bis zu 1.000 Skischüler, darunter bis zum 500 Kinder, versammelten, um Skifahren zu lernen. Apropos lernen: Skifahren in Seefeld ist untrennbar mit einem Namen verbunden: Toni Seelos. Der Erfinder des revolutionären Parallelschwungs macht Seefeld und die hiesige Skischule seit den Dreißigern weltbekannt. Aber Toni ist nicht nur Skischulleiter, sondern auch Rennläufer. Seine neue Technik macht den Seefelder im Slalom unschlagbar. Zehn Jahre lang. Folglich gewinnt er Anfang der Dreißigerjahre vier Weltmeistertitel im Slalom und in der Kombination. Bei den Olympischen Spielen 1936 drüben in Garmisch-Partenkirchen darf der Toni aber nicht starten, weil sein Status als Berufsskilehrer dem (damaligen) olympischen Amateurgedanken widerspricht. Umso erfrischender, dass er als Vorläufer dem späteren Olympiasieger satte 5,8 Sekunden abnimmt. Toni Seelos leitet die Schischule bis 1981 und stirbt anno 2006 im Alter von 95 Jahren daheim in Seefeld. Was für ein Leben!
Die Tiroler Version von Nachhaltigkeit
Die Seelos’sche Skischule im Allgemeinen und die Kinderskischule im Speziellen sind seit Generationen eine Institution am Geigenbühel. Heute mehr denn je. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bauen die Seefelder den ersten Seillift am Geigenbühel. 1956 wird er durch einen Schlepplift ersetzt, der bis heute in Betrieb ist. Die Tiroler Lesart des Themas „Nachhaltigkeit“. Im gleichen Jahr eröffnet Max Dornegger am Geigenbühel in einem kleinen Holzhütterl den ersten Skiverleih. In den Hochzeiten steigen hier spektakuläre Skischulshows mit bis zu 120 Skilehrern – inklusive Fackellauf und Feuerspringen – die von mehr als 1.000 Zuschauern beklatscht werden. Ende der Achtzigerjahre erblickt dann das Maskottchen „Gizzy“ das Licht der Welt. Der bekommt sogar einen eigenen Song komponiert, den alle einheimischen und Gästekinder auswendig mitsingen können.
Apropos einheimisch: So gut wie jeder Seefelder hat am Geigenbühel das Skifahren gelernt. Und auch viele Gäste, die seit Jahren nach Seefeld kommen, sinnieren noch voller Nostalgie in Erinnerungen an ihren eigenen Skikurs – 50 Meter über den Dächern des Dorfes. Kürzer als hier können die Wege ins Winterglück nicht sein. Der Schlepplift liegt mitten im Ort und kann von den meisten Hotels zu Fuß in wenigen Minuten erreicht werden. Daher gibt’s auch keinen Parkplatz. Seefeld lebt eben das „Ski-in-Ski-out“.
Wir schreiben das Jahr 2024. Schischule und Skiverleih am Geigenbühel bestehen immer noch. Und gehören immer noch den Familien Seelos und Haselwanter. Tonis Namensvetter Erwin Seelos ist heute Schischulleiter. Bis heute finden jeden Donnerstag oder Freitag Kinderrennen der Skischule statt. Vor allem die Abschlussrennen der heimischen Kindergärten sind im wahrsten Wortsinn der Renner für Klein und Groß. In Zeiten des rasanten Wandels scheint hier am Geigenbühel in Seefeld manchmal die Zeit stehenzubleiben. Ein Beispiel gefällig? Immer noch bekommt jeder Skifahrer unten am Lift seinen Bügel gereicht. Von einem echten Menschen. Wie in der guten, alten Zeit!