Auftakt zur Skisaison der Sektion Schorndorf des Deutschen Alpenvereins (DAV), einer Kleinstadt 25 Kilometer östlich von Stuttgart: Fast 50 Mitglieder sind in aller Herrgottsfrüh in einen Reisebus geklettert und vier Stunden nach Westendorf in Tirol gefahren, wo praktischerweise mitten im Skigebiet Wilder Kaiser Brixental auf 1.555 Metern Höhe „ihr“ Sektionshaus, die Alpenrosenhütte, thront. Für Schwaben, die gern nach dem Motto „Wir können alles außer teuer“ in den Skiurlaub verreisen, ist das ein Paradies: Die Übernachtung im Viererzimmer kostet samt Halbpension 43 Euro, der halbe Liter Skiwasser 2,50 Euro (für AV-Mitglieder).
Die Hütte liegt außerdem direkt an der – allerdings tiefroten – Talabfahrt, von der Terrasse genießt man den Eine-Million-Euro-Ausblick auf die umliegenden Gipfel der Alpen. Gut, Spätzle mit Soß’ stehen nicht immer auf der Karte in der Skihütte, aber so ist das halt in der Diaspora außerhalb Schwabens. Auf den Tisch kommen stattdessen so „exotische“ Gerichte wie Tiroler Gröstl und Kaspressknödel.
Türkischer Kaiserschmarren
Ein noch größerer Exot ist Hüttenwirt Kemal Akcay. Der gebürtige Türke mit österreichischem Pass ist hier oben in der Skihütte der Chef. Zuvor war er viele Jahre Kellner auf der Hütte, bis sein Vorgänger 2010 in Rente ging. Die Sektion hätte damals am liebsten wieder einen Einheimischen als Pächter verpflichtet, doch der lehnte ab. Die Stelle wurde ausgeschrieben, 24 bewarben sich, Kemal machte das Rennen.
„Es hat nie eine Rolle gespielt, dass Kemal türkische Wurzeln hat“, betont Harald Graß, der in der Sektion die Ski-Abteilung führt: „Der kann gut mit den Gästen und ist fleißig. Das allein zählt. Er führt weiter, was sein Vorgänger Sepp aufgebaut hat.“ Außerdem schmecke sein Kaiserschmarren einfach zum Niederknien gut.
Ein Exot im DAV
Dennoch ist Kemal im DAV mit seinen 323 öffentlich zugänglichen Schutzhütten eine Ausnahme, wahrscheinlich sogar der einzige türkischstämmige Wirt. Ganz allgemein scheint Bergsport nicht der Türken liebster Zeitvertreib zu sein, zumindest nicht in den Alpen, denn in Kleinasien selbst existiert eine sehr rege Szene. „Wir führen keine Statistik über die Nationalitäten, die in den Sektionen vertreten sind“, erklärt Stefan Winter vom DAV. „Aber gemessen daran, dass Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland einen erheblichen Teil der Bevölkerung stellen, ist ihr Anteil im DAV vermutlich eher gering.“ Auch bei der Mammut-Sektion München & Oberland (175.000 Mitglieder) scheinen türkischstämmige Bergsteiger dünn gesät zu sein. In der Redaktion der Sektionszeitschrift heißt es: Sorry, da ist uns kein einziger persönlich bekannt.
Kemal scheint ein so seltenes Exemplar zu sein wie Lilium martagon. Die Wildblume wird im Volksmund schlicht Türkenbund genannt, in Anspielung an das türkische Wort für Turban, an den die zurückgeschlagenen Blütenblätter fraglos erinnern. Die Türkenbundlilie ist in Tirol laut Naturschutzverordnung gänzlich geschützt, Pflücken verboten. Kemal lacht, wenn man ihn darauf anspricht. Ja, auch er ist eine Rarität. Er weiß das. Er macht gern mit, wenn man ihn als Musterbeispiel gelungener Integration ins Rampenlicht schiebt.
Ein Türke in Lederhosen
Als 2016 die für 1,5 Millionen Euro neu gebaute Hütte eingeweiht wurde, berichtete die Schorndorfer Lokalzeitung groß darüber. Auf dem Foto vor dem neuen Schutzhaus posieren Kemal, Sohn Atakan, seine Frau Selma und die beiden Zwillingstöchter Aleyna und Alara in Lederhosen und Dirndl. Da müsste doch sogar der in Österreich starken FPÖ das Herz aufgehen, sollte man meinen. Tut es natürlich nicht. Derzeit müssen Tausende österreichische Einwanderer fürchten, ihren Pass zu verlieren, weil sie sich in der Vergangenheit nicht ordnungsgemäß von der türkischen Staatsbürgerschaft „abgemeldet“ hatten. Einige wohl wissentlich. Andere, weil sie auf den türkischen Konsulaten Dokumente unterschrieben, ohne genau zu verstehen, was sie da taten. Fakt ist: Der Doppelpass ist nach rot-weiß-rotem Recht nicht erlaubt. Wer dennoch zwei Pässe besitzt, riskiert die Ausweisung.
Eine Skihütte zwischen zwei Welten
Die Akcays haben alle fünf einen Pass der Alpenrepublik. Kemal und Sohn Atakan tragen rot-weiß karierte Hemden im Dienst, mit den jetzt am Vormittag zur Skihütte hereinschneienden Einheimischen reden sie Tirolerisch. Türkische Spezialitäten wollen sie nicht anbieten, das passe nicht zu einer Berghütte. Einen Obstbrand, den Kemal Stammgästen oft auf Kosten des Hauses serviert, trinkt er schon mal selbst mit. Und trotzdem sagt er: „Wir werden von Österreichern nicht als Österreicher und von Türken nicht als Türken angesehen.“
Soziologen nennen sie „die Zerrissenen“. Dabei ist Kemal kein typisches Gastarbeiterkind dritter Generation. Seine Familie stammt aus der Schwarzmeer-Provinz Ordu, doch er ging früh nach Istanbul, wo er als Maurer arbeitete und seine Frau Selma kennenlernte, die in derselben Firma tätig war. 1988 folgte er seinem Bruder nach Österreich. Selma kam später nach, 1993 heirateten sie. Alle drei Kinder sind in Tirol geboren. Die Familie lebt in Kufstein in einer eigenen Wohnung, am Wochenende treffen sich alle auf der Hütte, einschließlich Angel: ein dreijähriger Chihuahua, den Sohn Atakan aufgelesen hat. Zu Hause sprechen alle Türkisch, die Töchter gehen aufs Gymnasium, auch Sohn Atakan hat die Matura bestanden und später eine Lehre als Bürokaufmann abgeschlossen. Er will noch studieren, sieht seine Zukunft nicht als Hüttenwirt.
Ein Präsident aus Österreich
Kemal serviert den Schorndorfern in ihrem Winterurlaub am Abend paniertes Schweineschnitzel und isst es auch selbst, obwohl seine Religion der Islam ist. Er ist da nicht so streng, bedauert es aber ein bisschen, dass der Freitag kein Ruhetag ist und auf der Skihütte dann meistens sogar Hochbetrieb herrscht: „Ist halt so. Wir können hier oben auch nicht fasten an Ramadan.“ Für einen Moscheebesuch in Wörgl, Kufstein oder Kitzbühel sei selten Zeit.
Apropos: Die Regierung in Wien will zahlreiche Imame ausweisen und auch Moscheen schließen. Grundlage für die Entscheidung ist das Islamgesetz von 2015, das von Muslimen eine positive Grundeinstellung gegenüber Staat und Gesellschaft fordert. Kemal sagt: „Ich bin Muslim, aber die Religion steht nicht an erster Stelle. Entscheidend ist doch, wie sich ein Mensch benimmt, unabhängig vom Glauben, oder?“ Und weiter: „Mein Präsident ist nicht Herr Erdogan, sondern Herr Van der Bellen.“
Schwäbisch Skifahren
An Heiligabend bleibe die Hütte geschlossen. Dann gebe es eine Gans nur für die Familie und engste Freunde. Party für alle ist dann wieder an Silvester. Natürlich fahren die Akcays auch Ski, wie es sich für ordentliche Österreicher gehört. Mutter Selma erzählt folgende Geschichte: „Einmal waren Kemal und ich drüben in Kitzbühel unterwegs. Der Tagesskipass kostete 50 Euro. Ich wurde irgendwann müde, aber Kemal gönnte mir keine Pause. Der meinte nur: Wir müssen die Liftkarte doch ausfahren, damit es sich lohnt.“
Sehr deutsch, sehr schwäbisch sei das. Er muss da selbst schmunzeln. Kemal, der Integrationsstreber. So nennen die Schweizer deutsche „Gastarbeiter“, die sich anmaßen, als Zeichen ihrer Anpassungsbereitschaft Schwyzerdütsch zu sprechen – nach dem Motto: Wie man’s macht, ist es falsch.
Kulinarik mit lokalen Zutaten
Ja, die Akcays sind „vollintegriert“, wie ein Schorndorfer DAV-Mitglied sagt, auch wenn das ein Begriff ist, der bei Google in erster Linie im Zusammenhang mit Waschmaschinen auftaucht. Dennoch gibt Kemal zu: „Heimat ist ein schwieriges Thema. Das ist schon immer noch die Türkei. Na ja, zur Hälfte auch Tirol.“ Meist sei der Alltag viel zu hektisch, um intensiv darüber nachzudenken.
„Ich bin Chef von zwölf Angestellten“, erklärt Kemal. „Wir managen 3.500 Übernachtungen im Jahr. Unser Arbeitstag hat 16 Stunden und mehr.“ Da bleibe wenig Zeit zum Grübeln. Schon gar nicht, wenn man wie er den Anspruch hat, 90 Prozent der Speisen frisch zuzubereiten. Erst nach längerer Diskussion habe er sich von Selma und den Kindern überreden lassen, Hamburger anzubieten. Und auch erst dann, als gesichert war, dass er die Pattys aus regionalem Rindfleisch selbst herstellen kann. Da ist er eigen. Auch Gulaschsuppe aus der Dose ist bei ihm tabu. Bei allem Stress ist es Kemals Anspruch, immer freundlich zu bleiben. Er ist das Gegenteil des typischen Grantlers, wie man ihn leider viel zu oft trifft auf Österreichs Hütten.
Historische Skihütte
Eine der wenigen Episoden, die man zum Thema „Österreicher und Türken auf dem Berg“ findet, ist eine Zeichnung des deutschen Karikaturisten-Duos Achim Greser und Heribert Lenz. Sie trägt den Titel „50 Jahre Türken in Deutschland, eine Erfolgsgeschichte“. Zu sehen ist eine Berghütte namens „Üzrüms Alpenglück“, daneben prangt der islamische Halbmond. Ein Schild kündigt an: „Heute: Hüttenzauber mit Bauchtanz“, in der Hundehütte fletscht Aufpasser „Erdogan“ die Zähne.
Zwei Einheimische in Tracht sitzen auf der Bank vor dem Schutzhaus. Einer raucht Shisha, der andere hustet mit hochrotem Kopf. Der Wirt mit Schnauzbart und dunklem Haar schimpft: „Himmiherrgottsakramentwasguckstdu? Hassu bestellt Brotzeit mit scharf!“ Im Hintergrund ist eine Ziege zu sehen, die ein anderer Schnauzbartträger hütet … aber das würde jetzt zu weit führen.
Übernachten: www.alpenrosenhuette.de, www.dav-schorndorf.de