„Nur wenn alles stimmt, kannst du dein Bestes abrufen!“
Ski-Queen Lindsey Vonn im Interview

Fünfdreiviertel Jahre! Hättet ihr es gewusst? Dass das Karriereende einer der schillerndsten Persönlichkeiten, die der alpine Rennsport je erlebt hat, schon so lange zurückliegt? Ich hätte auf drei, vielleicht vier Jahre getippt. Schließlich ist die blonde Modellathletin, die aufgrund ihrer maximal aggressiven Fahrweise in ihrer Karriere oft als absolut furchtlos bezeichnet wurde, noch sehr präsent. Lindsey Caroline Vonn, 1984 in Saint Paul, Minnesota, geboren, ist eine Celebrity, ein Topstar. Man sieht sie regelmäßig auf dem roten Teppich, bei Premieren oder Gala-Abenden, bei Sport-Events im Rampenlicht sowie auf Titelseiten von Mode-, Lifestyle- und Sport-Magazinen. Und in vielen beeindruckenden Fitness-Videos in den sozialen Netzwerken. Denn die Frau, die mit 82 Einzelsiegen bis Januar 2023 die erfolgreichste Skirennläuferin der Weltcupgeschichte war, ehe Mikaela Shiffrin sie übertrumpfte, ist fit. Extrem fit. Doch der Grund, der dahintersteckt, ist kein immens ausgeprägter Körperkult. Es ist der Preis, den Lindsey Vonn, die sich im vergangenen Jahr den Traum erfüllte, als erste Athletin die schwierigste Abfahrt der Welt, die legendäre Streif, bei Nacht zu bezwingen, für ihre Erfolge, ihren Ehrgeiz und ihre Risikobereitschaft zahlen muss. Warum? Das hat sie uns im Exklusivinterview bei einem Presse-Event ihres Ausrüsters Under Armour verraten. Dass sie konkrete Comebackpläne hegt, ahnen wir zu dieser Zeit ebenso wenig wie ihren Entschluss, sich einige Wochen später ein künstliches Kniegelenk einsetzen zu lassen. Deshalb dreht sich das Interview auch nicht darum, was Ende 2024 sein könnte, spannend und emotional bewegend ist es dennoch. Wir führen es übrigens auf ihren Wunsch auf Deutsch, denn die 40-Jährige liebt die Alpen, verbringt viel Zeit dort und spricht deshalb fließend Deutsch. Bereits vor rund zehn Jahren sagt sie, dass sie die Letzte ihrer Generation von Rennläuferinnen wäre. Nun ist sie zurück. Mit künstlichem Knie. Im Rampenlicht des Profisports, zurück im Weltcupzirkus.

SKIMAGAZIN: Hallo Lindsey, schön, dass du dir die Zeit für das SKIMAGAZIN nimmst. Die wichtigste Frage: Wie geht es einer ehemaligen Athletin, deren Karriere von vielen und schweren Verletzungen geprägt war, in ihrem neuen Leben nach der Racing-Laufbahn?
Lindsey Vonn: (lacht) Ich habe viel mehr zu tun, als ich gedacht habe! Ich bin viel unterwegs, fliege hin und her und arbeite eng mit meinen Sponsoren, so wie Under Armour, Land Rover oder Red Bull. Ich mache auch viel als Keynote Speakerin, habe bei Head eine eigene Ski-Linie. Ich habe also wirklich viel zu tun, aber das Leben ist dennoch ganz anders. Ich vermisse das Adrenalin, das der Körper in deine Adern pumpt, wenn du dich mit Vollgas eine Rennpiste hinabstürzt, die engen Freundschaften im Fahrerlager, also meine Ski-Familie – und sicher auch den Wettbewerb.
Klar, schließlich bestimmten lange Zeit das Training, die gleichen Abläufe und der Rennkalender dein Leben, alles war sehr strukturiert. Viele Profisportler fallen da nach dem Karriereende erst mal in ein Loch. Hattest du das auch?
Nein, eigentlich nicht, denn ich hatte so viele Pläne und Ideen, und dennoch muss ich auch Ja antworten, denn ich hatte bestimmt für eineinhalb Jahre oder so Probleme. Ich war immer wieder deprimiert, und das war sicher ein Loch. Wenn du dein ganzes Leben nur ein Ziel hast und dem alles unterordnest, dann ist es natürlich schwer, wenn du plötzlich ein anderer Menschen sein musst. Auf einmal ruft keiner mehr an und holt dich zum Training ab. Vorbei! Ich hatte alles durchdacht, wusste, dass meine Karriere endet, mein Körper war am Ende, einfache Dinge wie das Gehen sind mir schwergefallen. Auch die mentale Belastung war aufgrund meiner eigenen Erwartungshaltung groß, da kamen mir diese eineinhalb Jahre nicht so lang vor. (lacht)

Man merkt irgendwann, dass die Karriere zu Ende geht. Du hattest ja ziemlich mit Verletzungen zu kämpfen. Wie lange hat es gedauert, bis dein Körper halbwegs regeneriert war, bis du gesagt hast, okay, jetzt fühle ich mich wieder wohl?
Es tut nicht morgens alles weh, wenn ich aufstehe … Der Moment ist leider noch nicht gekommen. Ich habe ihn herbeigesehnt, aber es tut immer noch vieles weh (lacht). Immer. Jeden Morgen brauche ich meine Zeit, muss nach wie vor jeden Tag kämpfen, dass ich meine Beine ganz strecken kann, dass meine Muskulatur normal arbeitet. Ich hatte gehofft, dass es stetig besser wird, aber leider ist es so nicht gelaufen. Seit 2013 bin ich nicht mehr die gleiche, obwohl ich seit dem Rücktritt drei OPs gehabt habe. Aber so ist das Leben einer Athletin. Das ist der Preis, den ich für meine Karriere zahle.
Man sieht viel von dir auf Social Media, Sport spielt nach wie vor eine große Rolle. Viel Fitnesstraining, aber auch andere Aktivitäten. Wie wichtig ist dir das? Brauchst du es einfach, dich auszupowern? Gehört Training zu deinem Alltag oder hast du auch Phasen, wo du mal die Füße hoch legst und auf der Couch sitzt?
Ja, die gibt es schon, Fitness ist an sich mehr für meinen Kopf (lacht). Allerdings muss ich auch unentwegt hart arbeiten, damit mein Körper überhaupt funktioniert. Deshalb gehe ich oft in die Fitnesskammer. Da es jedoch keine vorgegebenen Strukturen, keine Trainingspläne mehr gibt, fühle ich mich frei und mache, worauf ich Lust habe. Aber ohne das Skifahren habe ich kein Ventil für meine Energie. Fitness-Training ist das Einzige, was da irgendwie ans Skifahren rankommt (lacht)!

Wie oft stehst du denn noch auf Ski? Und kannst du es mit deinem geschundenen, schmerzenden Körper überhaupt noch genießen?
Ja, endlich kann ich es genießen! Ohne die Gier nach Höchstleistungen, ohne mich unentwegt selbst zu pushen. Es hat ein wenig gedauert, aber im vergangenen Winter hatte ich gut 40 Skitage. Das war ganz gut. Es macht riesig Spaß, mit meiner Familie Ski zu fahren. Es ist wie früher, als ich Kind war. Der Kreis schließt sich.
Ich habe darüber mal mit Maria Riesch, zur aktiven Zeit eine deiner größten Konkurrentinnen und Freundinnen, gesprochen. Sie liebt immer noch harte Pisten. Morgens, wenn es nicht so voll ist, ein, zwei Stunden Gas geben, dann reicht es ihr. Fährst du lieber auf der Piste oder im Gelände?
Pulverschnee ist viel einfacher für meinen Körper (lacht)! Aber ich liebe beides. Daheim in Utah, in Deer Valley, öffnet die Sesselbahn für einige Leute eine Stunde früher, dann kann ich ganz schnell fahren (lacht). Aber nach zwei, manchmal drei Stunden geht’s nach Hause an meinen Computer.
Also mit Speed ein bisschen Adrenalin in den Körper pumpen und dann an den Schreibtisch?
Ja, genau. Das ist perfekt! Ich liebe es, schnell zu fahren, und deswegen mag ich seit jeher die Abfahrt so. Es gibt keine Limits, du kannst genau so schnell fahren, wie es dir mit deinem Können gelingt.
Schaust du noch viele Weltcup-Rennen?
Nur ein paar, in Amerika ist es nicht so einfach, die Rennen in Übersee zu schauen. Ich reise zu einigen Stationen, letztes Jahr in Kitzbühel hat es echt Spaß gemacht. Aber es ist auch immer noch schwierig, weil ich noch so gerne mitfahren würde (lacht).

Im Rennlauf kommt es so auf die Feinarbeit an, dass die Abstimmung stimmt, dass der Skischuh passt. Hattest du Freude daran, dich in die Entwicklung von Produkten einzubringen?
Ja, das war sehr wichtig für mich. All die Kleinigkeiten, die das große Ganze ergeben. Ich bin sehr detailversessen und will alles optimieren.
Und das sehr akribisch, wie ich hörte …
Genau, ich habe nach jedem Lauf aufgeschrieben, wie mein Gefühl war. Ich war sehr sensibel und feinfühlig. Nur wenn alles stimmt, kannst du dein Bestes abrufen! Egal in welchem Bereich, es muss perfekt passen.
Du bist offensichtlich auch sehr interessiert an Fashion, kreierst eigene Signature-Kollektionen, auch Teile speziell auf Athletinnen ausgelegt. Erfüllt dich diese Arbeit?
Ja, das mag ich sehr. Ich setze mir nach wie vor Ziele, will Bestimmtes erreichen und helfen, dass Frauen noch besser ausgestattet werden. Ich investiere auch in Damensport, in die amerikanische National Women’s Soccer League und in eine neue Volleyball-Liga. Es macht mich happy, Frauen und den Damensport zu unterstützen, auch mit meiner Ski-Linie von Head.
Bei Under Armour arbeitest du auch an der Entwicklung der Funktionswäsche mit, oder?
Ja, das macht mir großen Spaß. Ich tausche mich viel mit CEO Kevin Plank aus. Er ist ein Visionär, der es auch liebt, an Feinheiten, Details und Innovationen zu tüfteln. Wir diskutieren über Design, ich bringe die Sicht einer Frau ein, sage, worauf wir Mädels bei Teilen wie der ColdGear-Baselayer-Linie Wert legen, was uns gefällt. Kevin ist ein Mann, der Athleten helfen möchte, bei allen Bedingungen ihre bestmögliche Leistung abzurufen, das habe ich während meiner Karriere am eigenen Leib erfahren.

Zumal du die Kälte hasst! Wie schwer war es da für dich denn, die Ski-Karriere einzuschlagen?
(lacht) Ja, eine gute Frage, aber so ist das, wenn man in Minnesota aufwächst. Dort hat es angefangen, weil es da so wahnsinnig kalt war. Es hat sich immer so angefühlt, als wäre mein Blut dicker und träger, und es wurde jedes Jahr schlimmer. Deshalb brauchte ich immer sehr dicke Funktionswäsche und hatte total viel an. Viel hilft viel! Ich habe immer dick eingepackt am Start gewartet, mich erst kurz vorher ausgezogen. Wahrscheinlich war ich auch wegen der Kälte so schnell (lacht).
Einfach so schnell es geht zur dicken Jacke?!
Ja, genau! In Lake Louise oder Vancouver, da war ich immer schnell, weil es so wahnsinnig kalt war. Schnell ins Ziel und Jacke und Hose wieder an (lacht). Deshalb ist mir Performance in allen Bereich so wichtig, auch bei der Kleidung. Während meiner Laufbahn konnte ich nur selten kreativ sein, jetzt habe ich die Möglichkeit und kombiniere Performance mit Mode.
Apropos Performance: Hast du noch viel Kontakt zu ehe maligen Race-Kolleginnen?
Ja klar. Mit Sofia Goggia habe ich beispielsweise oft Kontakt. Im Sommer, im Winter, wegen Rennen, wegen unserer Leben (lacht). Auch zu den US-Girls habe ich einen guten Draht. Mit einigen bin ich auch mal im Urlaub gewesen. Ich glaube, ich werde immer nah dran sein an der Skiwelt. Denn das ist das, was ich liebe.
Vielen Dank für das Gespräch!
Wie sehr das Feuer noch in ihr brennt, sehen wir im November, als sie sieben Monate nach erfolgreicher Knie-OP ihr Comeback nach über 2.100 Tagen ankündigt und der US-Skiverband für Lindsey eine Wildcard für die Rennen am 21. und 22. Dezember in St. Moritz beantragt. Zuvor will sie als Vorläuferin in Beaver Creek starten. Ihr langfristiges Ziel: die Qualifikation für die Olympischen Winterspiele 2026 in Cortina d’Ampezzo! Viele Wegbegleiter zollen ihr Respekt, doch es gibt auch Kritik am Plan, im Alter von 40 Jahren mit einem künstlichen Kniegelenk in den Weltcup zurückzukeh ren. Doch Lindsey Vonn ist Lindsey Vonn. Ehrgeizig, couragiert, furchtlos. Sie liebt den Wettkampf auf höchstem Niveau. Speed. Und natürlich das Risiko …

Das ist Lindsey Vonn
Name: Lindsey Caroline Vonn | Geboren: 18.10.1984 in Saint Paul | Größe: 1,78 m | Weltcup-Debüt: 18. November 2000 | Karriereende: 10. Februar 2019 | Spezialdisziplinen: Abfahrt, Super-G | Erfolge: Olympische Spiele: 1 x Gold (2010, Abfahrt), 2 x Bronze (2010 Super-G und 2018 Abfahrt), Weltmeisterschaften: 2 x Gold (2009 Abfahrt und Super-G), 3 x Silber (2007 Abfahrt und Super-G, 2011 Abfahrt), 3 x Bronze (2015 Super-G, 2017 und 2019 Abfahrt), Junioren-WM: 2 x Silber (2003 und 2004 Abfahrt), 1 x Bronze (2004 Riesenslalom); Weltcup: 4 x Gesamtweltcupsiegerin (2008–11), 8 x Abfahrtsweltcupsiegerin (2008–13, 2015–16), 5 x Super-G-Weltcupsiegerin (2009–12, 2015), 3 x Kombinationsweltcupsiegerin (2010–12), 82 Einzelsiege (43 x Abfahrt, 28 x Super-G, 5 x Kombination, 4 x Riesenslalom, 2 x Slalom), 137 Podiumsplatzierungen | Auszeichnungen: u. a. Skieur d’Or 2009, US-Sportlerin des Jahres 2009 und 2010, Weltsportlerin des Jahres 2011 (Laureus World Sports Award), Laureus Spirit of Sport Award 2019 | Ausrüster: Head, Under Armour, Land Rover, Red Bull